Der Fall Griechenland

Datum
Ort
Leipzig
Themenbereich
Staatenkonkurrenz und Imperialismus
Aus dem Vorwort
2010 steht der griechische Staat zum ersten Mal vor dem Bankrott, 2015 erneut. Wie es zu der Dauerpleite des EU-Mitglieds an der südlichen Peripherie Europas hat kommen können, ist für den öffentlichen Sachverstand kein Rätsel. „Über seine Verhältnisse gelebt“ hat das Land, und zwar so gut wie jeder seiner Insassen, und will davon nicht wirklich lassen. Die Bürger zahlen keine Steuern, die Politiker treiben sie auch gar nicht erst ein. Das Geld, das sie zum Regieren brauchen, holen sie mit gefälschten Bilanzen in Brüssel ab, bezahlen damit Rentner, Lehrer und überflüssiges Amtspersonal und halten eine Ökonomie in Gang, die hauptsächlich aus Korruption und dem für Südländer typischen Hang zum Nichtstun besteht –: Ungefähr in der Art soll man sich vorstellen, wie in dem Land 20 Jahre lang vor sich hingewirtschaftet wurde und mehr oder weniger offen immer noch wird. 
Der Botschaft erster Teil: Mitten in Europa haben sich dort unten, kunstvoll verschleiert, in Herrschaft und Volk Sitten eingenistet, die so gut wie gegen alles verstoßen, was in der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion erlaubt und bei allen anderen Mitgliedern dieser „Euro-Familie“ die Regel ist. Damit ist zweitens klar: Von ungefähr kommt es überhaupt nicht, dass dieser Staat bankrott geht. Da ereilt bloß einen Fremdkörper in der Union der Europäer das gerechte Schicksal, das er mit seinen absonderlichen bis kriminellen Machenschaften herausgefordert hat. Drittens gehen deshalb auch die Konsequenzen in Ordnung, die Deutschland gegen den Widerstand der griechischen Regierungen, insbesondere gegen die uneinsichtige Linke von Syriza, durchsetzt: Mit dem angedrohten Ausschluss aus dem Euro-Verbund, mit einem rigorosen Kreditregime und mit verbindlichen staatlichen Sparvorschriften bringen Schäuble, Merkel & Co. die widerstrebenden Griechen nur zur „Vernunft“ ...
Das ist nicht ganz gerecht. Erstens hat sich in Bezug auf die besonderen Usancen der griechischen Haushaltspolitik in Europa noch nie jemand etwas groß vorgemacht. Sich als machtvoller europäischer Staatenblock eine Nation an der Südperipherie zuzuschlagen und durch die Eingemeindung nach den Regeln des Acquis communautaire politisch haltbar und verlässlich zu machen: Das waren die übergeordneten politischen Gründe, deretwegen auf übertriebene Genauigkeit bei der Prüfung der Maastricht-Tauglichkeit des griechischen Haushalts verzichtet wurde – wie in anderen Ländern, wie man inzwischen erfahren hat, übrigens auch. Zweitens mag es schon sein, dass im Land der Griechen ökonomisch wie politisch manches anders läuft als in anderen Nationen der europäischen Union und in denen der besseren Garnitur schon gleich. Aber dass deswegen Griechenland und seine Krise ein irgendwie un- oder außereuropäischer Sonderfall sind, kann schon deswegen nicht sein, weil Griechenland ja nun unbestreitbar ein Mitglied der europäischen Union ist – und im übrigen nicht das einzige, das mit der Euro-Krise an den Rand des Bankrotts geraten ist. 
Drittens vor allem ist es ja in Wahrheit so: Europa ruiniert seine „Südschiene“. Von den Führungsmächten der Union als Markt und Schuldner in Anspruch genommen, werden Griechenland und Co. mit ihrer Überschuldung in die Verelendung getrieben. Genauer: in eine Politik der Verelendung, die sich durch zwei Besonderheiten auszeichnet. So richtig verelendet wird das Volk; dabei steht zugleich fest, dass die Staatsgewalt sich dadurch nicht saniert, sondern selber ruiniert. Zu dieser marktwirtschaftlichen Glanzleistung kommt ein demokratisches Highlight dazu: Überlebenshilfen für die öffentliche Gewalt gibt es nur, wenn die Regierung des betreffenden Landes sich vorab verbindlich auf die bedingungslose Anerkennung aller Bedingungen verpflichtet, die die EU-Führung ihr auferlegt.
Natürlich ruiniert Europa seine „Südschiene“ nicht zum Spaß. Die Führungsmächte retten so ihr Geld; genauer: dessen Tauglichkeit als Kommandomittel über Arbeit und Reichtum in Europa und über dessen Grenzen hinaus. Dafür organisieren sie mit noch mehr Schulden „Rettungsschirme“ und „Hilfsprogramme“ für das Vertrauen in die Schulden, die jetzt schon zu viel sind. Als Bürgschaft für die Solidität ihres finanzwirtschaftlichen Kunstwerks verlassen sie sich aber nicht allein auf den Eindruck, den in der Finanzwelt große Zahlen machen. Die Kreation mehrstelliger Milliardensummen aus nichts verknüpfen sie mit der Einführung eines politischen Aufsichtsregimes über die Partnerländer, die ausweislich ihrer minderen Bonität ja wohl verkehrt mit dem guten gemeinsamen Geld gewirtschaftet haben müssen. Die Härte dieses Regimes soll das Vertrauen stiften, das Schulden unbedingt brauchen, damit sie Kredit heißen und als Kapital geschäftsmäßige Verwendung finden. 
Die Rechenschaftspflicht, die sich demokratische Machthaber ihren Wählern gegenüber allemal schuldig sind, kommt dabei nicht zu kurz. Die Rettungstat wird dem Volk sogar doppelt erklärt. Einerseits humanitär und entsprechend verlogen: Hilfe und europäische Solidarität müssen sein angesichts der Katastrophe im Süden, auch wenn die selbstverschuldet ist, nämlich ihren Grund allein darin hat, dass da ein Staat auf „unsere“ Kosten gelebt hat. Andererseits unter Verweis auf nationale Kernanliegen: Hilfe muss sein zur Rettung „unseres“ guten Geldes und überhaupt zur Bewahrung der Einheit Europas.
Letzteres ist schon nahe an der Wahrheit, wodurch und von wem Griechenland zum europäischen Sonderfall gemacht wurde, als der das Land seit nunmehr fünf Jahren traktiert wird. Europas Macher retten erstens ihr Geld und zweitens ihr Projekt einer friedlichen Eroberung des Kontinents mit der sachzwanghaften Gewalt des kapitalistischen Reichtums, genauer: Die deutsche Führungsmacht der Union erzwingt von ihren Partnern die Selbstverpflichtung auf die von ihr erlassenen Direktiven einer „vernünftigen“, also ihrer eigenen Geld- und Kreditpolitik. So kommt Europa durch die Krise und wieder ein Stück weiter voran: Deutschland treibt die ökonomische Indienstnahme seiner Partner für die große Sache europäischer Weltmacht und Weltgeltung rücksichtslos weiter, die an den USA Maß und sich deren modernen Imperialismus der Funktionalisierung eigenverantwortlicher Souveräne bis hin zu deren Zerstörung zum Vorbild nimmt. 
Die vorliegende Broschüre enthält einige redigierte Artikel, in denen die ‚Politische Vierteljahreszeitschrift GegenStandpunkt‘ sich während der letzten fünf Jahre um die Erklärung der Euro-Krise und der Krisenkonkurrenz der Euro-Staaten bemüht hat, in deren Zentrum Deutschland steht, das seinerseits Griechenland mit seinem Staatsbankrott in den Mittelpunkt einer „gemeinsamen Krisenbewältigung“ gerückt hat. Die Kapitel analysieren Schritt für Schritt die Etappen des Kampfes, den Deutschland mit seinem Projekt ‚Europa‘ exemplarisch am „Fall Griechenland“ für sein Programm führt, „aus der Krise gestärkt herauszukommen“ – als ökonomische und politische Großmacht in und mit Europa.
Literaturhinweise

J. Köper / U. Taraben
Der Fall Griechenland
Fünf Jahre Krise und Krisenkonkurrenz
Europa rettet sein Geld – die deutsche Führungsmacht ihr imperialistisches Europa-Projekt

130 Seiten, Format A5
€ 10,–
ISBN 978-3-929211-15-3

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